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kurzgeschichte

Der Schreinerplanet

Auf dem nächsten Planeten arbeitete ein Schreiner.
In der einen Hand hielt er ein eisernes Winkelmass, in der anderen einen roten Stift. Er beugte sich gerade über ein Holzbrett, das in seiner Werkbank eingespannt war.
«Guten Tag», sagte der kleine Prinz, «was tut Ihr da?»
Ohne aufzublicken antwortete der Schreiner: «Ich messe.» Dann arbeitete er weiter.
Höflich wartete der kleine Prinz einige Augenblicke, dann fragte er:
«Und wozu wird das Holz gemessen?»
«Alles muss rechtzeitig gemessen werden. Sonst besteht die Gefahr, dass es zu klein wird. Und wenn es zu klein ist, ist es zu spät.»
Der kleine Prinz dachte an seine Blume, die doch gewachsen war, obwohl er sie nie gemessen hatte. Und an die vielen Affenbrotbäumchen, die nicht gemessen, sondern zum Schutz des Planeten täglich ausgerissen werden mussten.
In der Tat schien der Schreiner eine ganz besondere Arbeit zu verrichten. Gerne wollte sein Gast mehr davon verstehen und fragte, indem er auf den Schreinerwinkel wies:
«Muss dieses Eisen auch gemessen werden?»
«Natürlich nicht. Rechte Winkel werden nie gemessen, nur abgetragen.»
«Wann tragt Ihr diese rechten Winkel ab?»
«Eigentlich immer…» Der Schreiner zögerte. «Es geht gar nicht anders. Es braucht sie, damit die Arbeit am Schluss ordentlich aussieht: vier gleiche Ecken, zwei gleiche Tische.
Der kleine Prinz konnte sich nicht erinnern, auf seinem Planeten je einen rechten Winkel gesehen zu haben. Dort gab es alles nur einmal: einen Prinzen, eine Blume, eine Giesskanne. Und die Affenbrotbäume wurden jeden Morgen ausgerissen. Vielleicht brauchen kleine Planeten keine rechten Winkel, dachte er bei sich.
«Wie gross ist denn dieser Planet?», fragte er schliesslich den Schreiner.
«Als ich jung war, zog ich aus, um seinen Umfang zu messen. Ich ging immer geradeaus und zählte dabei meine Schritte, bis ich das Meer erreichte und leider umkehren musste. Man hört Verschiedenes. Die einen meinen, er hätte weder Anfang noch Ende. Andere sagen, er sei kleiner, als man denkt.»

(Eingabe für den Schweizerischen Schreiner-Literaturwettbewerb 2005)

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